Papa, das Li-hied!“ erinnert mich Lasse, mein Elfjähriger, beim Zubettbringen. „Na gut“, sage ich – und singe: „Wenn sich die Sonn’ verhüllt, der Löwe um mich brüllt, so weiß ich auch in finstrer Nacht, dass Jesus mich bewacht.“ „Ach, Papa, ich hab dich lieb!“ sagt er – und schläft ruhig ein. Ein altes Lied aus der Sonntagsschule mit einer unvergleichlich tröstlichen Melodie und starken Worten. Hat bei mir schon als Kind seine Wirkung gehabt – und selbst in Zeiten von Gameboy und Spongebob berührt es die Seele tief. Jesus, der immer da ist – aber besonders nahe kommt im gesungenen Gute-Nacht-Lied. Ich bin immer wieder erstaunt, wie sehr Lasse dieses alte Lied mag. Und auch ich liebe es. Immer noch. Ganz tief ist es in meiner Erinnerung verankert. Wie so viele andere alte Lieder. „Stern, auf den ich schaue …“. „Welch ein Freund ist unser Jesus!“. „Ich bin durch die Welt gegangen …“. Paul Gerhardt, Teerstegen, die erwecklichen Lieder aus dem „Reichsliederbuch“, mit dem ich aufgewachsen bin. Tiefe Erinnerungen. Schöne Melodien. Standfeste Worte, die unbeschadet durch die Zeit gegangen sind. Ein Schatz für mich, den ich nicht missen möchte. „Sie glauben es nicht, sie sängen es denn!“ hat Luther einst gesagt. Ein genialer Satz, über den ich öfter mal nachdenke. Was für eine Einsicht in die vielschichtige Ganzheit des Menschen! Klug, strategisch, pragmatisch. Lieder verankern den Glauben tief in der Seele. Wo Veränderung Wurzeln schlagen soll, braucht es Lieder. Wo Begeisterung ist, wird gesungen. Lieder erreichen mein Herz, geben ihm Worte. Verankern im Leben, was im Kopf allein verhungern würde. Luther hat erkannt, wie Gott uns gemacht hat. Kein Wunder, dass Lieder Teil der Reformation waren. Was das für uns heute heißt? Eine Menge! Und meines Erachtens einiges, was uns noch nicht genug bewusst ist. Ich zähle mal auf:
1. Lieder sind Teil unseres geistlichen Erbes, das wir erwerben und erobern, gut verwalten und am Leben erhalten müssen. Die bewährten alten Lieder dürfen auch für unsere Kinder nicht verloren gehen – auch sie gehören zum Schatz des Glaubens, den wir klug verwalten müssen. Es ist wichtig, dass Jung und Alt darin zu Hause sind. Deswegen müssen wir sie singen! Heute!
2. Lieder als ein Träger des Glaubens können in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden. Das haben wir in den vergangenen Jahren auch durch den Trend zu Anbetungszeiten wieder neu gelernt. Lieder sind nicht Versatzstücke für ein Gottesdienstprogramm, nicht Unterbrechung des Redeflusses, nicht akustischer Endpunkt der Sitzungspause, sondern haben einen Wert in sich und brauchen Aufmerksamkeit.
3. Bei aller Wertschätzung der neuen Anbetungslieder dürfen wir es nicht versäumen, den Schatz der alten Lieder wach zu halten und an unsere Kinder weiterzugeben. Neben dem Zuhausesein in der Bibel und dem persönlichen Glaubenszeugnis ist dies eine wesentliche Verwurzelung des Glaubens. Dabei gehören alte und neue Lieder konkurrenzlos zusammen. Jede Gemeinde braucht ihre Lieblingslieder – ganz alte und ganz neue!
4. Geistliche Lieder schaffen ein Zuhause und geben uns Heimat und Identität. Deswegen ist es wichtig, sie auch in unserer Muttersprache zu kennen und zu singen. Sprache gibt Heimat. Aber Glaube sprengt auch Grenzen. Deswegen Albert Frey und Brian Doerksen. Paul Gerhardt, Peter Strauch und Theo Lehmann. Fanny Crosby, Mahalia Jackson und Darlene Zschech. Ihre Lieder sind gute Gabe Gottes, der sich nicht freut, wenn seine Kinder sie gegeneinander ausspielen. In unsere Schatzkiste gehören sie alle hinein. Die in der eigenen Sprache dürfen nicht fehlen.
5. Wenn wir heute in der Kirche des Wortes Defizite empfinden, den Glauben auch erfahren zu können, dann hängt das manchmal auch damit zusammen, dass wir keine zeitgemäßen Formen geistlicher Musik haben, die Altes lebendig erhalten und Neues mit Offenheit empfangen. Glaube, Predigt und Singen gehören zusammen. Gottes Gegenwart wird in Liedern besonders intensiv und ganzheitlich erfahren.
6. Die Kirchengeschichte war sich der Bedeutung der Lieder für die Erfahrung Gottes immer bewusst. Noch heute gehört zu jedem Kirchturm auch ein Kantor. Ein Reichtum, der am Abbröckeln ist – und in den Freikirchen aus Geldmangel oder Geringschätzung oft wenig verstanden wurde. „Worship-Leader“ oder Anbetungsleiter kommen als Berufsbild heute aus dem englischsprachigen Bereich herüber. Als Gemeinden müssen wir neu entdecken, dass Kantoren nicht verzichtbare Kunsthandwerker, sondern Prediger des Wortes sein könnten. Deswegen müssen Theologische Seminare und Universitäten das Berufsbild des musikalischen Pastors, des predigenden Anbetungsleiters, des musikalischen Schatzhüters neu verstehen. Weitsichtige Gemeinden werden einen professionellen pastoralen Dienst für die Musik aufbauen oder vertiefen – und brauchen Ausbildungsorte, die Musik und Theologie verbinden. Wenn wir uns wünschen, dass wir selbst und unsere Kinder im Glauben ein Zuhause finden, dann müssen wir unsere Lieder wertschätzen und singen. Zuhause und in der Gemeinde. Alte und neue. Deutsche und andere.
Zusammen mit Lasse und alleine …
Ulrich Eggers
Aufatmen