»Eigenartig ist das ja, in einem fremden Haushalt herumzuwühlen und die Hinterlassenschaft zu ordnen«, sagt Marion zu ihrem Schwager Hans. »Du hast vergessen, dass wir auch nach einem Testament suchen. Sonst würdest du dir doch kaum die Mühe machen und die ganzen Papiere durchsehen«, antwortet dieser zynisch. »Du irrst, mein Lieber«, erwidert sie ebenso spöttisch, »für uns ist es schließlich besser, wenn wir keines finden. Am Ende steht sonst nur drin, dass sie alles irgendeinem religiösen Verein vermacht hat – und du könntest es nicht einmal anfechten. Sie war im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte; jeder würde das bestätigen. Sie war ja nicht einmal krank, bevor sie starb. Einschlafen, sterben – einfach so. Aber jetzt kann wenigstens keiner behaupten, wir hätten ihren Nachlass nicht gewissenhaft nach einem Testament durchsucht.« »Wenn sie tatsächlich alles einer religiösen Vereinigung oder der Kirche vermacht hat, dann hätte sie ihr Testament bestimmt bei einem Notar hinterlegt. Es wäre ihr viel zu unsicher gewesen, es hier im Hause aufzubewahren. – Nein, die Sorge habe ich nicht. Eher schon, dass ich nichts bekomme. Für mich hat te sie ja nicht viel übrig.« »Kein Wunder, bei deinem Lebenswandel. Aber schließlich war deine Frau immer ihr Liebling. Schon deshalb hast du nichts zu befürchten. Eher gehe ich leer aus. Sie hatte nie Verständnis dafür, dass man heute zum Zusammenleben nicht unbedingt einen Trauschein benötigt.« Eine Weile durchsuchen beide schweigend die Schubladen. »Was machen wir nur mit dem ganzen Zeug«, fragt Marion, nachdem sie wieder mit einer fertig ist. »Fragen, ob es jemand will, und wenn nicht, na dann…« »Ist das nicht pietätlos?«, befürchtet Marion. »Kannst du dir vorstellen, dass noch jemand Wert auf diese Sachen legt?« zerstreut Hans diese Bedenken. »Sieh mal«, sagt Marion plötzlich, als sie die nächste Schublade durchsieht. »Hier liegt ein kleines Buch in einem Papier, auf dem stehen unsere Namen.« »Zeig her, das ist bestimmt das Testament«, behauptet Hans und möchte ihr das kleine Buch am liebsten aus der Hand reißen. »Testament? Nein, das Buch sieht wie ein Kalender aus, nur mit Bibelsprüchen. ‚Losungen‘ steht drauf. Nein, nein, das Blatt ist kein Testament. Aber unsere Namen stehen drauf und Stichworte hinter jedem. Guck dir das an, sie wusste über alle Bescheid.« »Nun gib doch endlich her«, bittet Hans gereizt. Er nimmt das Büchlein in die Hand, blättert darin, sieht sich das gefaltete Blatt genauer an und verfärbt sich. »Jetzt bist du sicher erschrocken, weil sie alles über dich wusste«, deutet Marion seinen Gesichtsausdruck. »Ach Blödsinn. Ich überlege, warum dieser Zettel in einem solchen Buch liegt. Das hat doch einen Grund.« »Sieht aus, als hätte sie es immer beim Essen gelesen«, bemerkt Marion und deutet auf die vielen Flecken, die das Blatt mit den Namen unansehnlich machen,. Aber Hans gibt darauf keine Antwort. Er starrt immer nur auf die Namen, die bekannten und unbekannten. »Ich glaub, ich habs«, erklärt er schließlich nachdenklich, »das war ihr Gebetbuch. Sie hat für uns gebetet, und die Flecken sehen mir eher nach Tränenspuren aus.« »Du bist ja sentimental«, stellt Marion überrascht fest, als der Schwager sich umdreht und die Nase putzt. »Das hätte ich dir gar nicht zugetraut.« »Ach, lass doch deine spöttischen Bemerkungen, du hast ja keine Ahnung. Mit mir ist es abwärtsgegangen, jawohl. Beruflich und privat. Gemerkt hat das von euch bis jetzt keiner. Selbst Bettina ist nichts aufgefallen. Aber sie ist ja nur noch mit den Kindern und der Mode beschäftigt. Das Leben hat mich angeekelt, jawohl. Ich habe schon öfter daran gedacht, einfach mit allem Schluss zu machen – und nun entdecke ich hier, dass jemand wahrscheinlich jeden Tag für mich gebetet hat.« Beide hatten überhört, dass die Tür des Nebenzimmers geöffnet wurde. Bettina ist eingetreten. »Habt ihr etwa das Testament gefunden?«, fragt sie erschrocken, als sie ihren Mann und die Schwester scheinbar deprimiert vorfindet. »Also hatte Marion doch recht«, gibt sie sich selbst die Antwort, »ich wollte es ja nicht glauben. Also doch irgendein kirchlicher Verein, der alles erbt.« »Ist doch nicht wahr«, weist sie ihr Mann ärgerlich zurecht. »Sieh dir das an, dein Name steht auch drauf. Das war ihr Erbe. Jeden Tag hat sie für uns gebetet, dass wir mit Gott und unserem Leben in Ordnung kommen. Sie hat sicher gar nicht an ein Testament gedacht. Was aus uns wird, wenn sie tot ist, das war ihr wichtiger, als was aus ihrem Haus oder ihrem Geld wird. – Und wirklich, ich denke, sie hat das nicht umsonst getan«, fügt er leise hinzu.