Wasser des Lebens
Vor langer Zeit lebte ein Bauer mit dem verheißungsvollen Namen Gottfried. Er besaß riesige Ländereien, seine Äcker waren fruchtbar, die Zahl seiner Tiere nahm täglich zu, und er hätte ein zufriedenes, erfülltes Leben führen können, doch das Gegenteil war der Fall.
Er war ein mürrischer, unzufriedener, verbitterter Mann, der seinem Namen keine Ehre machte. Weder mit Gott noch mit den Menschen hatte er seinen Frieden gefunden. Hier ist die Geschichte eines Wunders, wie es auch ab und an heute noch geschieht. Aber wer glaubt noch an Wunder?
Für die Bewirtschaftung seiner Äcker und der Pflege des Viehs hatte Gottfried einige Knechte und Mägde aus dem Dorf angestellt, denen er ein wahrer Tyrann war. Es herrschte eine bittere Armut in jenen Tagen, und wer im Lohn stand, war selbst über den kargen Betrag froh, den ein Mann wie Gottfried zahlte, denn viele Münder warteten in den armseligen Hütten darauf gefüllt zu werden – was in den seltensten Fällen gelang.
Die Seele des Bauern Gottfried war so von Dunkelheit umhüllt, dass selbst die Tiere verstummten, wenn er den Stall betrat, die Nacht in seiner Gegenwart dunkler wurde und ein Feuer im Kamin bei seinem Eintritt nicht mehr so zu wärmen vermochte wie vorher. Es gab eigentlich nur eines, was dem Bauern ein wenig Freude und Genugtuung bereitete. Ein Sack mit Goldstücken, den er auf Kosten seiner Knechte und Mägde über die Jahre mehr und mehr gefüllt hatte. Sorgsam zählte er Abend für Abend die neu hinzugekommenen Stücke und legte den Sack unter die Matratze seines Bettes, denn er traute niemand als sich selbst. Sein Reichtum war mittlerweile so angewachsen, dass es ihm Mühe bereitete zur Schlafenszeit sein Bett zu erklimmen. Der Sack mit Gold wuchs und wuchs und der Bauer kam der Schlafzimmerdecke immer näher. Natürlich ist solch ein Schlaflager hart und unbequem, was wiederum ein Beweis dafür ist, dass Geld und viel Besitz allein noch nicht glücklich machen oder in Ruhe schlafen lassen. Jeden Morgen erwachte Gottfried griesgrämig, gerädert und mürrisch, doch niemals hätte er ohne den Goldsack unter sich geschlafen.
Eines Abends, als er gerade mit blutendem Herzen und bösen Worten seinen Mägden und Knechten ihren kargen Lohn ausgezahlt hatte, klopfte es zaghaft an die Tür. Erstaunt hielt der Bauer mit dem Zählen der Goldstücke inne und wunderte sich, denn seit Jahren hatte ihn niemand mehr besucht. Sollte etwa einer seiner Untergebenen die Dreistigkeit besitzen, ihn um mehr Lohn anzubetteln? Nun, dem würde er zeigen, was es hieße, ihn bei seiner Lieblingsbeschäftigung zu stören.
Misstrauisch ergriff er einen neben dem Kamin stehenden Eichenholzknüppel und öffnete einen spaltweit die Tür. Es war Herbst, und die bereits kahlen Bäume kündigten Frost, Eis und baldigen Schnee an. Es pfiff ein bitterkalter Wind. Ein unbekannter Mann stand vor der Tür. Er war in Lumpen gekleidet und sprach:„Bauer Gottfried, seid so gut, gebt mir eine Scheibe Brot, um meinen Hunger zu stillen, ein Glas Wasser gegen meinen Durst und ein Quartier für die Nacht in eurer Scheune, habt Mitleid mit jemandem, der sein Haupt nirgendwo betten kann.“
Darauf entgegnete der Bauer: “Ich will euch lehren, rechtschaffene Leute bei ihrer wohlverdienten Abendruhe zu stören. Fort von meiner Tür und meinem Grund und Boden, sonst werdet ihr Bekanntschaft mit diesem Knüppel machen. Woher kennst du überhaupt meinen Namen?“
„Gottfried, Gottfried“, seufzte der Bettler, „wie hart ist dein Herz, möge der Segen des Vaters, des Sohnes und des Geistes deine Seele irgendwann befreien.“
Im nächsten Augenblick war der Mann wie von Zauberhand verschwunden.
„Vater, Sohn, Geist, du Nichtsnutz“; schrie Gottfried in den Wind,“ lass dich hier nie mehr blicken.“ Dann begab er sich in die Stube zurück und begann erneut mit dem Zählen der Goldstücke. Dabei gingen seine Gedanken auf Wanderschaft. Er hatte einst als Kind von diesem Christus gehört, diesem Rattenfänger, den Kleingeister und Angsthasen brauchten, um durch schwere Zeiten zu gehen. Das war etwas fürs arme Volk, aber nicht für einen schlauen, reichen Menschen wie ihn. Und dann gleich drei, Vater, Sohn, Geist, pah, wer war denn nun der große Glücksbringer der drei?
Grummelnd versteckte er den prallgefüllten Sack unter seiner Matratze und legte sich zu seiner unbequemen Nachtruhe.
Eines Tages hatte sich der König des Landes bei seinem Ausritt in die Wälder verirrt und die einbrechende Dunkelheit nahm ihm jede Hoffnung an jenem Tag noch zum Schloss zurückzufinden. Der König war ein harter, aber gerechter Mann. Da erspähte er den Hof des Bauern Gottfried. Freude ergriff ihn, denn er dachte: “Hier werde ich eine warme Mahlzeit und einen Platz für die Nacht finden, morgen wird der Bauer mir den Rückweg zum Schloss erklären, es soll nicht zu seinem Schaden sein.“ Hoffnungsfroh klopfte er an. Gottfried aber erwartete vor der Tür den Störenfried des Vorabends zu finden, ergriff seinen Knüppel, öffnete zornig die Tür und rief: “Du hast es nicht anders gewollt, wer nicht hören will, muss fühlen,“ um dann erstaunt den zurückweichenden späten Gast zu mustern. „Was wollt ihr?“ kam es barsch aus seinem Mund. „Nur mit der Ruhe“, entgegnete der König, „ich habe mich im Wald verirrt und suche eine warme Mahlzeit und ein Quartier für die Nacht, ich will es euch reichlich belohnen.“
Gottfried, der niemandem traute, und den beim Anblick der edelsteinbesetzten Kleidung des Königs blanker Neid erfasste, sprach darauf: “Nichts da, daraus wird nichts, hier ist kein Platz für euch, und dem Knüppel ist es egal, auf wessen Kopf er tanzen darf. Macht euch von dannen, schlaft im Wald, edler Herr und esst von euren Edelsteinen.“ Mit diesen Worten schlug er die Tür zu. Zornig ritt der König fort, um ein gastfreundlicheres Anwesen zu suchen, dabei begegnete ihm eine Schar Fackel tragender Reiter, die sich beim herannahen als seine Diener auf der Suche nach ihm entpuppten. Gemeinsam ritten sie zum Schloss zurück.
Des Königs Wut aber über die dreiste Behandlung und die Hartherzigkeit des Bauern war so groß, dass er sich am nächsten Tag mit einigen Rittern auf den Weg machte, um sich Gottfried vorzuknöpfen. Als dieser erfuhr, wen er am Vorabend an der Tür abgewiesen hatte, bekam er das erste Mal in seinem Leben große Angst.
Der König befahl, das Haus nach Wertgegenständen zu durchsuchen um den Bauern mit einer angemessenen Strafe zu belegen. Schon bald hatten die Ritter den gewaltigen Goldvorrat unter der Matratze gefunden.
„Auf Gold schläfst du und hast nicht einmal eine Mahlzeit und ein Quartier für deinen König? Ich werde dir beibringen, was es heißt, einen ausgehungerten Verirrten dem Tod auszusetzen. Doch um nicht genauso herzlos zu sein wie du, will ich dir zwei Chancen geben dein Leben zu retten. Nimm deinen Sack mit Gold und flüchte, wir geben dir eine Stunde Vorsprung. Und sollten wir dich bis zur siebten Abendstunde nicht gefunden haben, hast du deine erste Chance genutzt“, sprach der König, wohl wissend, dass der Bauer zu Fuß kaum eine Chance gegen die Ritter hatte.
Verzweifelt machte sich Gottfried auf den Weg. Ihm war bewusst, dass der König Rache wollte und er gegen seine Ritter, die die Gegend wie ihre Hosentasche kannten, verloren war.
Mühsam schleppte er sich voran und wie er sich auch quälte, er kam kaum weiter.
Niemals aber hätte er sich von seinem Goldsack getrennt. In seiner Not wusste er weder ein noch aus. Da hatte er plötzlich das Bild des Bettlers vor den Augen, der ihn vor zwei Tagen aufgesucht hatte mit dem Gerede über Vater, Sohn und Geist.
„Nun, Vater, beweise mir deine Macht, und dass es sich lohnt, dich um Hilfe zu bitten, befreie mich aus dieser Notlage“, sprach er. Von weit her, aber sich rasch nähernd, war bereits deutlich Hufgetrappel zu vernehmen. Da zog dichter Nebel auf, und innerhalb weniger Sekunden war die Hand vor Augen nicht mehr zu erkennen. Der Bauer verkroch sich schnell mitsamt dem Goldsack in einem Hohlraum unter einem umgestürzten Baum, und den herumirrenden Rittern gelang es nicht, Gottfried bis zur siebten Stunde zu finden. Triumphierend machte sich Gottfried auf den Weg zurück zum Hof. „Na, Vater“, rief er, „ich brauche dich nicht, denn das Glück ist mit den Tüchtigen.“
„Ich sehe, du hast deine erste Chance, wenn auch ohne dein Zutun, genutzt“; sprach der König nach der Rückkehr des Bauern. “Hier ist nun deine zweite Aufgabe.
Schau auf diese Weide.“ Er wies auf ein riesiges Stück Grünland. „Egal, wie du es anstellst, bis zum Sonnenaufgang möchte ich nicht einen Grashalm mehr auf dieser Wiese sehen.“ Mit diesen Worten drückte er dem Bauern einen Spaten in die Hand.
Alsbald wurde Gottfried die Unmöglichkeit bewusst, diese riesige Fläche umzugraben, oder auf andere Art und Weise das Gras verschwinden zu lassen. Der König hatte ihm eine tödliche Falle gestellt. Der Bauer besaß keine Freunde, die ihm helfen konnten, und zum ersten Mal wurde ihm deutlich klar, wie einsam er trotz seines Reichtums war. „Was nützt mir all´ mein Gold, wenn ich morgen früh sterben muss“, dachte er. Die Stunden verrannen, der Sonnenaufgang rückte näher. Wieder fiel dem Bauern kurz vor Ablauf der Galgenfrist der Bettler ein, der ihn um Hilfe gebeten hatte. „Beim Vater hat es nicht geholfen, vielleicht wirkt es beim Sohn, ihn um Hilfe zu bitten“, dachte der Bauer. „Also, Sohn, beweise mir deine Stärke, hilf mir, und falls ich mein Leben behalte, so will ich die Hälfte meines Besitzes den Armen geben“; sprach er kurz bevor die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont spähten und in der Ferne schon der Tross des Königs zu erkennen war.
Trotzdem der Himmel sternenklar und keine Wolke weit und breit war, fing es langsam an zu schneien. Als der König den Bauern erreichte, war die Erde mit einer dichten Schneedecke überzogen, und der Hochmut des Bauern kehrte weitaus schneller zurück, als er gegangen war.
Lachend rief Gottfried: “Ihr seht es König, es ist nicht ein Grashalm zu entdecken. Lasst mich nun in Frieden und gesteht eure Niederlage ein.“ Der König, als ein Mann, der zu seinem Wort stand zog mit seinen Mannen unverrichteter Dinge ab.
„Na, Vater und Sohn, ich brauche euch nicht“, rief der Bauer, „die Natur hat mir geholfen“, denn noch immer glaubte er an einen Zufall. Frohen Mutes zog er wieder in seine Stube ein.
Am Abend klopfte es erneut an seine Tür. Als er öffnete, stand dort der Bettler, der ihn trotz der schlechten Behandlung gesegnet hatte. Bevor der Bauer ihn abweisen konnte sagte er: “Ich komme, um dich an dein Versprechen zu erinnern, mit den Armen zu teilen.“ Gottfried schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
Da rief der seltsame Besucher: “Du Narr, löse dein Versprechen ein, sonst holt dich der Tod noch vor dem Morgengrauen.“ Dann herrschte gespenstische Ruhe. Der Bauer geriet ins Grübeln.
Woher wusste der Bettler von seinem in Gedanken gemachten Versprechen?
Wer gab ihm die Macht mit dem Tod zu drohen? Was waren das für eigenartige Wunden an seinen Händen gewesen? Angst und eine instinktive Gewissheit, dass der Bettler die Wahrheit gesagt hatte, zogen in das Herz des Bauern ein. „Auch die Hälfte meines Besitzes ist mehr als genug für mich“; dachte er, und um sein Leben zu retten, nahm er den halben Teil seines Goldvorrates und viele Speisen aus seinen prallgefüllten Kammern und lud alles auf einen großen Handwagen. Dann machte er sich auf den Weg ins Dorf. Dabei hatte er jedoch nicht bedacht, dass ihn seine Route über den Fluss führte, der sein Anwesen vom Dorf trennte. Es gab auch keine Brücke auf die andere Seite. Nun stand der Bauer verzweifelt am Ufer, denn das Floß, mit dem seine Mägde und Knechte ihn erreichten, lag auf der anderen Seite des Flusses. Er rief und brüllte sich die Seele aus dem Leib, doch niemand hörte ihn, denn es war Heiligabend, und die Menschen befanden sich in der Kirche, um die Geburt des Heilands zu feiern. Erschöpft sank Gottfried nieder. Hier und dort drang ein Lichtstrahl aus den armseligen Hütten, deren Bewohner durch die feierliche Atmosphäre des heiligen Abends ein wenig von ihrem Elend abgelenkt wurden. Nie gekanntes Mitleid ergriff bei diesem Anblick den Bauern und er dachte: “Wie konnte dies nur alles an meinem Herzen vorübergehen? Geist, du dritter des Segens des Bettlers, wenn es dich gibt, so hilf mir“, bat Gottfried.
Ein eisiger Hauch durchzog plötzlich die Luft und innerhalb kürzester Zeit war der Fluss so zugefroren, dass das Eis den Bauern und dessen Wagen trug. Voller Verwunderung zog Gottfried mit dem schweren Gefährt los und bemerkte auf einmal den Bettler an seiner Seite, der ihn beim Ziehen des Wagens unterstützte. Mit jedem Schritt, den der Bauer dem Dorf näher kam lief der Wagen leichter, und ein wunderbarer Frieden erfüllte sein Herz. Eine Freude, die er noch nie empfunden hatte, machte sich breit. „Verzeih mir“, sprach er zu dem Bettler“, dass ich dich abwies, nimm dir soviel du tragen kannst von meinem Wagen.“
Da erwiderte dieser: “Wertlos sind die Schätze, die die Menschen anhäufen, denn nur im Herzen schafft man Reichtümer für die Ewigkeit“. Da dämmerte Gottfried, wer sein Wegbegleiter war. „Bitte erkläre mir, wie kannst du Vater, Sohn und Geist in einem sein?“ fragte der Bauer.
„Versteckte dich nicht der Nebel vor den Rittern? Bedeckte der Schnee nicht deine Weide? Führte das Eis dich nicht über den Fluss? Und doch ist alles drei letztendlich Wasser“, antwortete der Bettler und verschwand so geheimnisvoll, wie er gekommen war.
Als die Christmesse an diesem Abend vorüber war, wurde der Glauben der Menschen des kleinen Dorfes an Wunder mit neuer Kraft erfüllt, denn vor jeder Tür lagen wertvolle Gaben und dem Fest angemessene Speisen, gespendet von einem
Menschen, dem rechtzeitig Herz und Augen geöffnet wurden. Auf seinem Weg zurück zum Hof glaubte der Bauer, ganz kurz einen außergewöhnlich hellen Stern mit Schweif über seinem Anwesen gesehen zu haben.
In dieser Nacht schlief Gottfried den friedlichsten und erquickendsten Schlaf seines Lebens. Der Goldsack teilte nicht mehr das Bett mit seinem Besitzer und lag achtlos mitten in der Wohnstube.
Noch viele Generationen später erzählte man sich an den langen Winterabenden vor dem wärmenden Kamin die Geschichte von Gottfried, dem Bauern, der seinen irdischen Besitz mit jedermann teilte und die Menschen lehrte, die Früchte der Liebe nicht am Wegrand verfaulen, die Töne der Freude nicht ungehört verklingen, und die Bilder des Friedens nicht ungesehen verblassen zu lassen, um dadurch zum Lobpreis des Schöpfers und zum Jubel über die Schönheit des menschlichen Lebens zu werden.
Hans-Georg Wigge