Lebenskunst: Mit Verletzungen befreiend umgehen

DR. MARTIN GRABE, Chrischona-Magazin, 11/2207
Manchmal geht Vergebung schnell. Wenn mir jemand aus Versehen auf die Zehen tritt, kann ich ihm innerhalb von Sekunden vergeben – ohne Heuchelei und zurückbleibenden Groll. Leider gehen viele der Verletzungen, die wir uns untereinander zufügen, wesentlich tiefer. Dann kann es lange dauern, bis Vergebung möglich ist.

Vergebung hat nichts mit Vergessen und Verdrängen: die bewusste Entscheidung zum Loslassen von Ärger und Groll, die Bereitschaft, sich in seinem Leben nicht von Bitterkeit und dem Wunsch nach Vergeltung bestimmen zu lassen. Etwas unters Kreuz Jesu zu bringen, ist dabei die beste Idee, die ein Mensch haben kann. Nur: das geht nicht ‘mal eben so’. Schon gar nicht auf Kommando, weil es zum Beispiel in der Gemeinde so erwartet wird. Es braucht sowohl Reife als auch eine lebendige Beziehung zu Jesus Christus.

Tiefer Schmerz
Vergebung ist ein Prozess. Er beginnt, wo ein Betroffener spürt: «Diesen Zustand ohne Vergebung will ich nicht mehr!» Das ist gar nicht selbstverständlich. Wer verletzt wurde, durchläuft zuerst immer eine Phase des ‘gerechten’ Zorns, in der er sich selbst in Gedanken aufwertet und den anderen herabsetzt. Wo – beispielsweise in Freundschaften und Partnerschaften – eine grundsätzlich gute Beziehung besteht, wird diese Phase im Normalfall leichter zu überwinden sein. Beide Partner wissen oft schon während eines Streits, dass sie es eigentlich viel besser miteinander haben könnten und sind schneller zur Versöhnung bereit. Man sehnt sich danach, wieder in einem unbeschwerten und liebevollen Verhältnis zum anderen leben zu können. Ganz anders bei wirklich schweren Verletzungen. Hier sitzt der Schmerz tief. Ständig kreisen die Gedanken um den Punkt der Verletzung. Selbstmitleid, Groll und Wut auf den, der einem das Böse angetan hat, Vorwürfe und der Wunsch nach Vergeltung dominieren. Erst wo eine Geschädigte bzw. ein Geschädigter es satt hat, immer wieder von Hass- und Rachefantasien gegen den Täter heimgesucht zu werden, wird Vergebung möglich.

Wege der Vergebung
Hass bindet ähnlich stark wie Liebe. In der Vergebung geht es darum, die Kette, die ein Opfer an den Täter fesselt, (endlich) loszuwerden. Es gibt drei Wege der Vergebung, die ein Mensch beschreiten kann: Das Verstehen: Je mehr ich die Hintergründe dessen verstehe, was mir gerade ein anderer angetan hat, umso eher werde ich vergebend damit umgehen können. Wenn ich mich um Verstehen mühe, bleibt manchmal sogar nur noch ein kleiner Rest, den ich wirklich vergeben muss. Die Relativierung: Wenn ich das Unrecht, das mir zugefügt wurde, zu eigenen Verhaltensweisen in Beziehung setze und dem Unrecht gegenüberstelle, das ich mir selbst in einer bestimmten Hinsicht geleistet habe, fällt mir das Vergeben leichter. Je stärker ich mich allerdings in einer Haltung der Selbstgerechtigkeit einrichte, umso weniger steht mir dieser Weg offen. Im Gleichnis von dem verschuldeten Verwalter aus Matthäus 18, 21-35 macht Jesus eindrucksvoll deutlich: Wer eigenes Versagen, Schuld und Sünde in seinem Leben ausblendet, wird unfähig zur Vergebung – und steht in der Gefahr, sich dadurch dauerhaft von einem befreiten Leben abzuschneiden. Die Delegation: Diese Möglichkeit steht Opfern schwerer Verletzungen auch dann noch offen, wenn andere Wege der Vergebung nicht gehbar scheinen oder sich als unmöglich erweisen: Der verletzte Mensch delegiert an Gott, was schmerzhaft und ungeklärt zwischen ihm und einem anderen steht. In Römer 12,19 schlägt Paulus dieses Vorgehen ausdrücklich vor: «Rächt euch nicht selbst, Geliebte, sondern gebt Raum dem göttlichen Zorn, denn es steht geschrieben (5. Mose 32,35): Mein ist die Rache, ich will vergelten, spricht der Herr.» Über den Weg der Delegation haben schon viele Menschen Befreiung von negativen Gefühlen, Hass- und Rachegedanken gefunden, die sie zum Teil jahrelang verfolgt hatten.

Subjektiv hat jeder Recht
Eine knifflige Frage ist, wer objektiv wie viel Schuld in einem Streit hat, ob es also nötig ist zu vergeben oder eher um Vergebung zu bitten. Betroffene können das nicht entscheiden. Denn das Gefühl des Verletztseins ist immer subjektiv: Was dem einen überhaupt nichts ausmacht, kann den anderen zutiefst kränken – und umgekehrt. Trotzdem haben beide subjektiv Recht. Wer schwer gekränkt ist, hat viel Vergebungsarbeit vor sich. Es nützt ihm nichts, wenn andere zur Kleinigkeit erklären, was ihm passiert ist. Allerdings können die Vergebungswege des Verstehens und der Relativierung oft erheblich dazu beitragen, das Gefühl der Verletztheit zu vermindern und damit die Menge dessen, was wirklich noch vergeben werden muss. Trotzdem zählt im Vergebungsprozess immer, wie schwer eine Verletzung subjektiv erlebt wurde.

Schleppen an der Schuld des anderen
Doch muss man eigentlich immer vergeben? Hat ein Christ, der durch einen anderen Menschen verletzt wurde, nicht das Recht, ärgerlich und zornig sein? Darf er nicht Reue beim Täter erwarten und ‘Wiedergutmachung’ einfordern? Meine Antwort lautet: doch, er hat dieses Recht, eben weil er gekränkt, vielleicht sogar tief geschädigt wurde. Aber – und das merken auf Dauer viele Betroffene: niemand wird glücklich, der sein gutes Recht gewissermassen ‘bis zum bitteren Ende’ einklagt. Das führt nämlich in die Verbitterung, weil kostbare Lebenszeit immer wieder mit zermürbend negativen Gedanken verbracht wird. Wer dauerhaft ‘nach-tragend’ bleibt, schleppt sich unnötig mit der Schuld des anderen ab. Grübeln kostet Kraft, und das Verharren in Kränkungen macht oft krank. Wer dagegen vergibt, wer die quälende Verletzung in die Hand Gottes legt, entlastet sich: er gewinnt an innerer Freiheit und äusserer Lebensqualität.

Helfende Begleitung
Ich freue mich über Menschen in unseren Gemeinden, die die geistliche Gabe der Seelsorge empfangen haben und sich zur Verfügung stellen, um anderen im Prozess der Versöhnung zu helfen. Gut, wenn sich bei ihnen eine Gabe zum Zuhören mit Erfahrungen und Fachkenntnis im Umgang mit verletzten Menschen, mit Tätern und Opfern verbindet. Ein Seelsorger sollte auch wissen, wann er jemanden an einen Facharzt oder Psychotherapeuten weitervermitteln muss. Er kann dann in Absprache weiter begleitende geistliche Hilfe anbieten.

Schnellversöhnung schadet
Grundsätzlich sollten wir Menschen, die verletzt wurden, die Zeit geben, die sie brauchen, um einem anderen zu vergeben. Wir können nicht beurteilen, wie schwer eine Verletzung getroffen hat, und deshalb keine Vorschriften machen. Gerade in Gemeinden ist es wichtig, Kontrahenten nicht zu einer ‘christlichen Schnellversöhnung’ zu nötigen. Das würde das Problem nur auf Dauer einfrieren. Wir können Betroffene aber dabei helfen, auf den Wegen der Vergebung voranzukommen. Vielleicht ist es an einer Stelle möglich, den Überdruss über die blockierte Vergebung zur Sprache zu bringen. Oder vielleicht kann für zwei Kontrahenten eine gut moderierte Aussprache organisiert werden, zum Beispiel wenn es Ärger im Betrieb oder in einem Arbeitskreis der Gemeinde gegeben hat. Wer ein Gespräch leitet, muss dabei unparteiisch sein und beiden Partnern eine positive Wertschätzung entgegenbringen. Aber das Wichtigste ist zu akzeptieren und auszuhalten, dass der Andere seine Zeit zur Versöhnung braucht. Auch wenn schon klar ist, wie die Lösung heisst, welcher Schritt in die Freiheit führt und zu seiner Zeit auch führen wird: das Geschenk der Vergebung.

Dieser Artikel erschien im Chrischona-Panorama Ausgabe 8/2007 auf Seite 6/7